Das Festival „Augenblick mal!“ zeigt Theater für junges Publikum. Es offenbart eine faszinierend große Bandbreite von Themen und ästhetischen Ansätzen
Plötzlich passiert es: der alte Mann in der ersten Reihe, der schon länger vor sich hin gegrummelt hat, springt auf. Er brüllt, spuckt aus und schimpft gewaltig über die „Migrantenjungs“, die auf der Bühne und die auf der Straße, die sein Berlin versauen. Und – frei nach Sarrazin – über die Politiker, die mit ihrer Ängstlichkeit die Selbstabschaffung der Deutschen vorantreiben. Knapp vor einer gewalttätigen Eskalation gelingt es einigen Zuschauern mit Mühe, den Mann zu beruhigen. Bis zum Ende. Dann kommt es tatsächlich zur brutalen Treterei.
Zurück bleibt ein verstörtes Publikum, dem langsam dämmert, dass es etwas für wahr gehalten hat, was „nur“ Theater ist. Das ist Theater! Schockierend, realitätsnah, zum Denken anregend.
Was das Berliner Theatertreffen für das „große“ Theater ist, ist das Festival „Augenblick mal!“ für das Theater für Kinder und Jugendliche. Alle zwei Jahre wird es organisiert vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in Frankfurt am Main; Grips-Theater und Theater an der Parkaue öffnen ihre Häuser für ein prallvolles Programm aus Aufführungen, Publikumsgesprächen, Parties – und den unvermeidlichen Fachkonferenzen. Der Untertitel des Festivals ist übrigens Programm: „Theater für junges Publikum“ – selbstbewusst formuliert er den Anspruch, dem Erwachsenentheater gegenüber künstlerisch ebenbürtig und, vor allem, inhaltlich genauso relevant zu sein. Es hält den Adressatenkreis offen, denn „jung“ kann immerhin jeder und jede sein, egal wie alt.
Eine unabhängige Jury aus Kritikerinnen, Kritikern und Experten wählte 10 Produktionen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum aus, dazu, unter dem Motto „Facing Reality“, drei Produktionen aus Ungarn, Irland und Kroatien.
Zwischen 23. Und 28. April gab es einen phänomenalen Überblick über das gegenwärtige Schaffen im Kinder- und Jugendtheater zu erleben.
Die oben beschriebene Szene stammt aus der Aufführung „Weißbrotmusik“ von Marianna Salzmann in der Regie des Busch-Absolventen Nick Hartnagel am Theater Strahl. Sie zeigt, mit welchen Problemen Theater für Jugendliche zu kämpfen hat: Relevant will es sein, realitätsnah und verstörend. Zugleich soll es klüger machen, ohne zu belehren. Geschildert wird hier das Leben von Sedat und Aron, zwei Berliner Jungs mit migrantischen Wurzeln, die sich in der aufgeräumten deutschen Welt nicht recht heimisch fühlen. Ihr Leben wird gehörig durcheinander gewirbelt, als Sedats Freundin Nurit schwanger wird. Was soll jetzt werden? Eifersucht, Unsicherheit, Angst entladen sich in einer fürchterlichen Gewaltorgie gegen einen alten Mann.
Nun sind aber die Mittel, die das Stück benötigt – hier die scheinbar reale Gewaltdarstellung – so rüde, dass die ZuschauerInnen nicht ohne großen theaterpädagogischen Aufwand nach Hause entlassen werden können. Selbst das anschließende Publikumsgespräch kann nicht kitten, was das Gefühl der Zuschauer ausmacht, die sich, völlig gemäß der Intention des Stückes natürlich, gegen den Ausbruch von Gewalt engagiert haben: Verarscht worden zu sein.
Wie viel Theaterpädagogik braucht das Kinder- und Jugendtheater? Wie viel Erläuterung ist nötig? Und wie viel „Kunst“ ist erlaubt? Darauf findet jedes Theater und jedes Stück neu seine Antwort, aber das Votum dieses Festivals fällt eindeutig für die Kunst aus: Die Aufführungen sind durchweg von einer hohen Qualität und Originalität. Und von einer verblüffenden thematischen wie ästhetischen Bandbreite.
Einige Beispiele:
Das Regieduo Gintersdorfer / Klaßen hat am Bremer Theater sein erstes Stück für Kinder und Jugendliche gemacht. Die beiden bleiben ihrer Linie treu, die kulturellen Voraussetzungen der politischen und kulturellen Hegemonie des Westens zu thematisieren und in der Konfrontation zwischen „schwarzer“ und „weißer“ Sichtweise zu dekonstruieren.
Ihr aktuelles Stück handelt von „weißer“ und „schwarzer“ Magie und davon, wie irrational und wirksam beide gleichermaßen sind – die Produktion versucht, Zuschauer in magischen Experimenten zu beteiligen und spielt mit dem Improvisatorischen. Das kann, muss aber nicht gut gehen, sodass trotz eines gewissen musikalischen und choreografischen Drives das Gefühl des Unfertigen bleibt. Wie die Tänzer und Tänzerinnen damit umgehen, hat leider etwas Kokettes.
Das Theater Marabu aus Bonn mit dem Regisseur Claus Overkamp ist gleich mit zwei Produktionen dabei, einer für Kinder, einer für Jugendliche. Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ wird als eine furiose Theater-Im-Theater-Geschichte vorgeführt. Gespielt von einer wilden Truppe abgehalfterter Komödianten. Witzig, abgründig, mit einer grandiosen Überfülle an Einfällen und einem wunderbar gierigen Schielen nach den Reaktionen der Zuschauer. In den entscheidenden Momenten entwickelt der Witz der Komödiantentruppe eine solche Gemeinheit, dass einem das Lachen sprichwörtlich im Halse stecken bleibt.
Das Stück „Schwester“ nach einem Roman von Jon Fosse erzählt die Geschichte eines Geschwisterpaares auf Abwegen. Die beiden Spieler führen die Entstehung der Geschichte durch Sound- und Videoeffekte so behutsam vor und ziehen die Zuschauer mit einer sanften, aber immer bewussten und kontrollierten Dynamik in das Geschehen eines Sommertages in Norwegen hinein, dessen Ereignisse immer eine gewisse Düsterkeit in sch bergen. Geschickt spielt die Aufführung mit den Assoziationen der Zuschauer, die in Andeutungen dunkle Vorbedeutungen sehen, die für die Kinder jedoch völlig ohne Bedeutung sind. Den Reiz bezieht das Stück aus diesem Glück der Unaufgeregtheit – und natürlich aus dem glücklichen Ausgang.
Das Politische als solches tritt selten in den Vordergrund – vorbei ist die Zeit des kruden Aufklärungstheaters. Im Hintergrund spielen jedoch Fluchtgeschichten, Verlassensein von Eltern, Bedrohung durch Gewalt und Enge eine große Rolle. Besonders eindrucksvoll in der Produktion „Der Junge mit dem Koffer“ des Mannheimer Schnawwl in Koproduktion mit dem Ranga Shankara Theater Bangalore. Es erzählt in epischer Rückschau die Geschichte des kleinen Naz, der vor der Verfolgung, die seine Familie bedroht, nach London flieht. Fluchtgeschichte als Sindbad-Erzählung, immer mit dem Blick nach Vorne. Indische und deutsche Theatersprache gehen eine gelungene Verbindung miteinander ein, zurückhaltend, tastend, nie folkloristisch, jedoch immer in den Erzähltraditionen beider Länder verankert.
Zu erwähnen ist schließlich noch die Aufführung „Radau!“ des Theaters an der Parkaue nach einem Hörspiel von Walter Benjamin. Eine charmante, rasante Aufführung, die den alten Kasperle des Volkstheaters in die Großstadt entführt, in ein Aufnahmestudio für Hörfunk. Seine Flucht führt ihn in das Labyrinth einer wilden, lauten Stadt, auf einen Jahrmarkt, in einen Zoo und schließlich wieder hinaus auf die Straße. Auf charmante Weise wird die Anarchie des Kasperle in die aufbrechende Moderne des 20. Jahrhunderts transportiert. Vor der Folie des Verwertungszwangs wird die Naivität, mit der Kasperle durch alle Wände geht, allerdings kräftig ad absurdum geführt.
Es ist eine coole Aufführung, halb gemeint, halb gezeigt. Aber doch ein Schauspiel. Witzig, voller Humor und Schnelligkeit. Aus dem Kasper, der die Kinder bespaßen soll, wird ein Kasperl, der den Wahnsinn der modernen Welt entlarvt: den Radau, den Krach, die Unmenschlichkeit der modernen Großstadtwelt. Die Aufführung ist eine sehr lustige Anverwandlung des Prinzips Kasperle, das die Verhältnisse von unten nach oben umstülpt, der immer wieder die vierte Wand durchbricht und die Kinder ins Spiel einbezieht. Furios das Ensemble, allen voran Johannes Hendrik Langer als Kasperle und der Pianist Anton Berman, der an seinem Klavier die unmöglichsten Rollen einnimmt und neben Swing und rasanter Polka einfach alles kann.
Das Wie des Machens wird gezeigt, nicht, das Gemachte allein. Es offenbart damit eine schöne Doppelbödigkeit und etwas Spielerisches, an dem sichtlich auch die Kinder ihr Vergnügen haben. Empfehlenswert!
Unter dem Titel „Facing Reality“ zeigt das Festival auch drei Produktionen aus dem europäischen Ausland. Das genügt vielleicht nicht, um einen Überblick zu verschaffen, ist aber spannend.
So zeigt zum Beispiel die spröde und ein wenig geheimnisvolle Produktion des Regisseurs Arpad Schilling „A Papnö / Die Priesterin“ am Budapester Kretakör Theater eine kluge Annäherung daran, was es heißt, mit Kindern auf dem Land Theater zu machen. Eine berühmte Schauspielerin geht nach Transsilvanien aufs Dorf, um Jugendliche mit theaterpädagogischen Workshops zu beglücken. Und trifft auf erhebliche Widerstände: Die Lehrer lehnen das kreative Getue ab, die Kinder sind ängstlich und in ihren Vorurteilen gefangen, und die Künstlerin selbst vermag schwerlich die Lebenswirklichkeit der Kinder zu akzeptieren und wert zu schätzen. Das ist eine bittere Diagnose. Denn was wäre denn zum Mindesten von einer funktionierenden Theaterpädagogik zu erwarten? Dass sie die Kinder in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht. Sie dort abholt, wo sie stehen.
Gerade im Kontext dieses Festivals, das über weite Strecken von den Debatten der Fachbesucher überlagert zu sein scheint und leider wenig jugendliches oder Kinder-Publikum überhaupt erreicht, ist dieses Stück ist auch ein gerade noch angenehm sarkastischer – und womöglich selbstironischer? – Kommentar auf die Arroganz der Künstler, die mit ihrer Weltbeglückungsidee Kinder mit libertären Ideen traktieren.
Im anschließenden Publikumsgespräch kreisen die Fragen um den imaginären Punkt der Authentizität. Wie „echt“ ist das? Spielen die Kinder hier sich selbst? Über das mögliche Versagen der Theaterpädagogik vor einer komplexen Lebensrealität zwischen religiösem Dogmatismus, autoritären Erziehungsstrukturen und ethnischen Konflikten mag in Berlin wohl niemand so gerne sprechen. Die Produktion spiegelt aber auf sehr eindrückliche und kluge Weise die Konflikte, die sich im Ungarn der Gegenwart abspielen.
Entgegen der Erwartung einer „Erkenntnis“ formuliert einer der Jugendlichen die ganz simple Selbstbeobachtung: „Nein, die Welt des Glaubens und die Welt des Theaters schließen sich nicht aus. In dem Theaterworkshop habe ich erfahren, dass beides ab jetzt gleichzeitig und nebeneinander in meinem Leben existiert.“
Das kann – jenseits großer theaterpädagogischer Ansprüche – vielleicht ein Sinn des Theaters für Kinder und Jugendliche sein: eine Schule der Empfindsamkeit und Wahrnehmung, des Hörens auf Geschichte und Geschichten, die dabei helfen, offen zu werden für neue Erfahrungen.
Die Erwachsenen und die Eltern übrigens sind im aktuellen Kinder- und Jugendtheater ein Totalausfall. Und zwar komplett! Entweder sie hören schlecht zu, oder sie haben falsche, ungeeignete Ordnungsprinzipien, oder sie machen sich aus dem Staub. Manchmal werden sie gewalttätig.
Im besten Fall aber tauchen sie gar nicht erst auf.